Schön langsam beginnt es zu stinken. Die meisten von uns im Zugabteil haben das letzte Mal vor zwei bis drei Tagen geduscht. Wir das sind Philip (USA), Aurelia (Kanada), Viktor aus Russland und ich.
Die mangelnde Körperhygiene auf der Fahrt im Zug Nr. 2 von Moskau nach Irkutsk – ich bin erst in Nowosibirsk nicht weniger “stinkig” dazugestoßen – wäre allerdings nicht das große Problem. Viel mehr sind es aber die Lebens- und Essgewohnheiten von Viktor, die uns die Nase rümpfen lassen. Bereits in Moskau brachte er einiges an Lebensmitteln mit ins Abteil. Ganz nach russischer Tradition begeht man eine mehrtägige Bahnreise mit jeder Menge an Essensvorräten. Tomaten, verschiedenes eingelegtes Gemüse und auch mehrere fertig gebratene Hühner gehören zum kulinarischen Reisegepäck des Reisegefährten aus Irkutsk.
Das Problem ist nur, dass manche Lebensmittel ohne kontinuierlicher Kühlung zu riechen beginnen. Offensichtlich hat Viktor große Sorgen vor einem Versorgungsengpass. So wird auf einem Bahnhof mit längerem Halt auch noch ein geräuchterter Fisch erstanden und mit den Henderln am gemeinsamen Tisch im Abteil aufgestapelt. Mangels geruchshemmender Folie können wir alle an diesem olfaktorischen Ereignis teilhaben.
Inhalt:
Babuschkas auf russischen Bahnhöfen
Das Angebot an selbstgemachten Speisen lädt auf manchen Bahnhöfen sehr zum Gustieren und Kaufen ein. Wir fahren mit dem Zug in Ilanskaja (der Ort heißt heute Ilanski) ein – 25 Minuten Aufenthalt. Die Babuschkas und auch jüngere Verkäuferinnen stehen bereits am Bahnsteig mit ihren Waren bereit. Neben allerlei gekühlten Getränken auf ihren Rollwägelchen bieten sie auch wahre Leckerbissen an. Dazu gehören die russischen Klassiker, wie zB. Pelmeni oder Blinys (Pfannkuchen/Palatschinken) mit süßen und pikanten Füllungen. Alles hausgemacht, versteht sich. Auch die erwähnten geräucherten Fische und diverse Hühnerteile finden ihren Weg zum Bahnsteigverkauf.
Leider wurde diese Versorgungsmöglichkeit auf längeren Bahnfahrten in den letzten Jahren immer mehr reduziert. Auf nur noch wenigen Bahnhöfen – dann meist eher den kleinen – findet man die Verkäuferinnen mit ihren selbstgemachten Waren.
Ich kann mich heute nicht zurückhalten und kaufe fürs Abendessen zehn Stück Wareniki (Teigtaschen) mit Kartoffelfüllung und eine Entenkeule. Wie sich beim Essen später herausstellt ist sie geräuchert. Beides hat einen tollen Geschmack – wie ich’s gerne habe. Um 130 Rubel, rund 3,50 Euro, wird man so am Bahnsteig satt. Zum Russland-Reiseerlebnis gehören Essen und Trinken in der Transsibirischen Eisenbahn einfach dazu.
Speisewagen etwas enttäuschend
Den Speisewagen hatte ich von von meiner Transsib-Reise 2009 besser in Erinnerung. Die Speisen waren zwar gut, aber relativ teuer und die Portionen klein. Für Beilagen, zB. Tomaten oder Paprika, muss nochmals extra bezahlt werden. Aber trotzdem: Ein Besuch im russischen Speisewagen für eine Schüssel vor sich seit Moskau dahinköchelnder Soljanka oder dem von roten Rüben gefärbten Borsch lohnt trotzdem. Je öfter aufgewärmt, desto besser werden bekanntlich Eintöpfe.
Viktors Vodka
Viktor ist ja eigentlich ein ganz netter Reisegefährte. Er ist bemüht gelegentlich mit uns Kontakt aufzunehmen. Aber die Sprach-Barriere macht immerzu Probleme. Zu seinem Reiseproviant gehören neben den oben erwähnten Köstlichkeiten auch mehrere Flaschen Bier und Vodka die er bereitwillig mit uns teilen möchte. In unserer “westlichen” Schüchternheit und angesichts des äußerst grausligen Kunststoff-Häferls versuchen wir regelmäßig die Trinkeinladungen abzulehnen.
Österreichische Bekanntschaften
Zwei Abteile weiter wird mit Vodka und Bier ausführlich die österreichisch-russische Freundschaft gefeiert. Allerdings herrscht dort weniger Zurückhaltung, was das hochprozentige “Wässerchen” betrifft. Clarissa aus St. Pölten und ihr Freund Helmut aus Kufstein teilen das Abteil mit einem frisch verheirateten russischen Pärchen. Igor, 22 Jahre alt und gerade mit der Offiziersausbildung fertig, ist mit seiner Frau im Zug “Rossija” am Weg nach Irkutsk in ein “neues Leben”. Er hat sich für die nächsten fünf Jahre in der Armee verpflichtet.
Immerzu fragt das Pärchen aus Russland die beiden österreichischen Reisegefährten, welchen Fluss sie mit der Transsibirischen Eisenbahn gerade überqueren oder welcher Bahnhof als nächstes angefahren wird. Bald stellt sich heraus, dass sich die beiden auf ihr zukünftiges Leben überhaupt nicht haben. Mit etwas Siedlungsgut und großen Taschen an Reiseverpflegung haben sie sich auf die 5.200 Kilometer lange Reise gemacht. Sie werden bei ihrer Ankunft das erste Mal Irkutsk sehen, waren noch nie dort. Wissen nur, dass sie dieser Zug dort hinbringen und die Provodniza rechtzeitig vor dem Aussteigen wecken wird. Keine weiteren Vorbereitungen. Kein Hotel gebucht für die ersten Tage. Sie haben nicht einmal einen Stadtplan von ihrer neuen Heimat.
Aber die Eltern meinten es gut mit Ihnen – von gebratenen Hühnern bis zu frisch gekochten Kartoffeln reicht die Reiseverpflegung. In Perm konnte die Schwiegermutter um Nichts nachstehen und hat nochmals die selbe Menge an Verpflegung zum Bahnhof gebracht. Trotzdem, dass Igor ein sehr “guter Esser” ist, müssen einige hundert Kilometer vor Irkutsk viele Speisen entsorgt werden.
Beim 16-Uhr-Kaffee-(T)Ratsch
Um 16 Uhr läutet gerade wieder mal der Wecker – Zeit für das 16-Uhr-Blick-in-die-Welt-Foto. Ich stehe grade mit Clarissa aus St. Pölten beim Samowar und trinke Kaffee. Einer der Orte, an denen wir uns über die Neuigkeiten in unseren Abteilen unterhalten und einmal dem Abteil entfliehen können. Sehr zur Freude der Provodniza, die gleich daneben ihr Abteil hat.
Aktueller Stand um 16 Uhr:
Ort: 27 Minuten per Bahn vor Ilanskaja
Land: Russland
Wetter: wechselhaft, wir durchfahren kleine Schauerwolken, dann klares Wetter und herrlicher Sonnenuntergang.
Zeitverschiebung:
Zur Mitteleuropäischen Sommerzeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz beträgt der Zeitunterschied + 6 Stunden. Steht in Ilanskaja die Uhr auf 16 Uhr ist es in Mitteleuropa erst 10 Uhr.
Russisch müsste man können
Warum ich die augenblickliche Situation von Igor und seiner Freundin so gut kenne liegt daran, dass Clarissa Russisch spricht. Sie ist mit ihrem Freund am Weg nach Irkutsk, um dort auf der Sommer-Uni gemeinsam ihr Russisch zu verbessern. Der Zugang zu Land und Leute ist so ein ganz anderer als wenn man nur ein paar Brocken der Landessprache spricht.
Viktor taut auf
So ist über Clarissa auch schnell der Zugang zu Viktor in unserem Abteil gefunden. In einer netten Vodka-Runde, gemeinsam mit zwei Schweden aus dem Nachbar-Abteil, lädt er uns überschwänglich alle zu sich nach Hause in Irkutsk ein.
Na, seine Frau würde sich freuen, wenn eine Horde an Backpackern bei ihnen einfallen würde. In einer gemütlichen Runde lassen wir den Abend bald ausklingen. Auch wenn das Reisen in Russland eine Angelegenheit von Tagen ist, irgendwann muss man doch aus dem Zug wieder aussteigen.
Viktor hat es nicht eilig
Um kurz nach 6 Uhr Ortszeit erreichen wir Irkutsk. Etwa eine Stunde vorher weckt uns die Provodniza und mahnt uns die Bettwäsche abzugeben. Philip, Aurelia und ich haben fertig gepackt und die Bettwäsche abgeben, Viktor schläft auch bei Irkutsk Sort., etwa 15 Minuten vor dem Hauptbahnhof noch immer tief und fest. Ich zupfe ihn bei der Zehe, und deute ihm, dass er nun die Bettwäsche abgeben müsse. Die Provodniza kommt fünf Minuten später und schimpft. Soweit ich es verstehe geht es um den “Saustall”, der noch immer am Tischchen im Abteil herrscht. Das hätte sie auch wirklich früher machen können, dann wäre uns in der letzten Nacht nicht die Luft vor lauter vor sich hingammelnden Lebensmitteln im Hals fast stecken geblieben.
Viktor berührt das wenig. Wir steigen um 6:12 Uhr in Irktusk aus, Viktor verabschiedet sich und winkt uns hinterher.
h.rogra says
also, mein lieber, ich bin inzwischen ziemlich sicher, dass meiner ohnehin angegriffenen leber diese wodka-attacken, denen ich wohl schwerer als du widerstehen könnte,sicher nicht gut tun würden. und auch fress-attacken drängen sich auf. aber doch. ich wäre gerne dabei! trotz der unendlichen mehrKILOS, die ich wohl zu verbuchen hätte. scheisse, das alter.
übrigens: die fotos gefallen mir sehr!
lg aus salzburg
ps:
wir machen uns am ende der woche auf nach italien.
knapp 5 wochen kunstkulturleben.
Michael Dernbach says
Hallo Gerry,
so langsam bekomme ich Respekt vor dem Vorhaben. Aber ich bin ja nicht viel mehr als 24 Stunden am Stück im Zug. Dann “gönne” ich mir erst mal wieder die “frische” Luft russischer Großstädte. Für mich steigert es enorm die Vorfreude auf die Reise, wenn ich Deine genial realistischen Reiseberichte lese.
Wünsche Dir weiterhin viel Spaß auf Deiner Reise.
Übrigens habe ich heute meinen Pass mit allen Visa bekommen, jetzt kann also (fast) nichts mehr schief gehen.
Viele Grüße
Michael
Mac_BetH says
Hallo Gerry,
Was soll ich sagen, ich bin begeistert! Schön beschrieben, toller Schreibstil und ich habe echt das Gefühl, dabei zu sein!
Und leider hatte ich die Geschichte mit Wodka auf einer deutsch russischen Hochzeit, und muss h.rogar zustimmen, meine Leber hat seitdem einen Schaden und Wodka riechen kann ich immer noch!
Das mit dem Essen, und vorallem mit der Menge, dass sind wir Mitteleuropär nicht gewohnt! Aber wie sagt man so schön, andere Länder andere Sitte! Aber dass das unangenehm ist, kann ich echt nachvollziehen!
Und auch ich bekomme vor deinem Vorhaben einen mords Respekt je mehr ich hier lese!
Lieben Gruß
Matthias
Sven says
Es gibt wohl kein schöneres Gefühl, als unterwegs zu sein, Menschen anderer Coleur kennen zu lernen und zu erfahren, wie vielschichtig ein jeder doch ist. ;-)
Bin beeindruckt und hoffe, Du wirst noch viele kleine und große Abenteuer erleben auf dieser Reise. Und vor allem, uns auch weiterhin daran teilhaben lassen.
Bin echt beeindruckt.
Grüße
Sven
Andersreisender says
@h.rogra: Die Zauberworte heißen “tschu, tschu” und dabei zeigt man mit den Fingern einen ca. 1-2 Zentimeter vertikalen Abstand. Dann kann schon gar nicht mehr viel mit dem Wodka passieren. Natürlich bin ich beeindruckt, wenn andere ein halbes Glas trinken als wäre es Wasser. Aber das ist nichts für mich – dann kann man mich abtransportieren. Und das liegt bestimmt nicht nur am Alter ;-)
Ich wünsche Euch spannende Wochen in Italien! Genießt es und kommt wieder gut zurück!
@Michael: Wenn ich auf Deine Zeilen Antworte bist Du schon selbst im Abenteuer Russland mitten drin. Fährst die Transsibirische Eisenbahn und hast einiges zu erzählen. Ich muss mal dringend bei Dir in die Reiseberichte schauen – bin schon sehr neugierig, wie es Dir ergeht.
@Sven: Treffender könnte ich es auch nicht ausdrücken. Oft sind es ja die kleinen Geschichten, die einen auf Reisen begeistern. Eines steht fest: Die Transsibirische Eisenbahn ist der beste Punkt, um jede Menge Erlebnisse mit anderen Menschen zu erleben.