“Morgenstund hat Whiskey im Mund” hat sich wohl der Provodnik gedacht, der mich nun schon zum dritten Mal nach meinem Namen und nach meiner Herkunft fragt. Er ist als “Aufpasser” von seinem russischen Schlafwagenschaffner-Kollegen kurz an meine Seite gestellt worden, der mit meinen Tickets aufgeregt davon gesaust ist. Es ist kurz vor sieben Uhr am Morgen, ich bin auf den ersten Kilometern der rund 4.100 Kilometern von Irkutsk nach Wladiwostok (Transsibirische Eisenbahn) unterwegs.
Irgendwie scheint in jenen Zügen, in denen kaum oder gar keine Touristen reisen, das Citystar-Ticket besondere Aufregung hervorrufen. Schon im Zug Nr. 140NJ hatte es mehrere Stunden gedauert, bis mit den Fahrkarten alles geklärt war.
Genau genommen macht auch hier im Zug Nr. 8NJ die Reservierung Probleme. Russische Fahrscheine und Reservierungen haben einen Durchschlag, bei meinen Reservierungen von ÖBB und Deutsche Bahn gibt es aber keine Kopie.
Der stark betrunkene Schlafwagenschaffner hat mir mittlerweile einen Platz im Dienstabteil aufgedrängt angeboten. Ich nehme auf dem mit schmutziger Bettwäsche überhäuften Hocker platz. Wieder fragt er mich, woher ich komme und wie ich heiße, schaut mich freudestrahlend an und drückt mir dann die Hand.
Gottseidank kommt der sehr nette, aber keiner Fremdsprache mächtige, Provodnik wieder zurück und erlöst mich endlich von der Rauschkugel. Das – wie auch immer geartete – Problem mit der Bettplatz-Reservierung werde er erst in fünf Stunden lösen können. Auch Recht – ich bin ja die nächsten 72 Stunden in diesem Zug und er weiß ja wo er mich findet. Ich möchte nun endlich noch ein paar Stunden schlafen, denn die Nacht war kurz.
Doch sein angeheiterter Kollege findet es gar nicht gut, dass ich “schon” ins Bett gehen will. Gerade jetzt, wo wir uns so gut unterhalten. Er bietet mir überschwänglich einen Whiskey an. Ich schnappe meine Bettwäsche und ergreife die Flucht.
Leise öffne ich die Abteil-Türe. Drei Betten sind belegt, es ist dunkel. Leise bereite ich mein Bett zum Schlafen vor und schlüpfe selbst unter die Decke.
Inhalt:
Leihopa mit Familie
Wer wem nun geliehen wurde weiß ich gar nicht so genau. Die Familie, die erst wie eine aussah ist jedenfalls keine. Alles klar? Nein? Das ist es mir erst auch nicht.
Also: Da wären Mutter Swetlana mit Sohn Ruslan. Und dann wäre mit 71 Jahren “Opa” Anatolij. So nett wie er mit den beiden umgeht denkt man, er sei mit ihnen verwandt. Doch in Wirklichkeit ist er auch nur ein Fahrgast, wie ich es bin.
Aber würde man zwei Tage später ins Abteil schauen würde man glauben, dass ich ein adoptiertes Kind aus dem fernen Westen bin. Die russische Gastfreundschaft kenne ich ja bereits, in diesem Abteil scheint es aber fast noch ein bisschen weiter zu gehen.
Russisches Zugabteil
Aber schön der Reihe nach: Da ich einen oberen Bettplatz belege, bietet mir Opa Anatolij einen Tages-Sitzplatz auf seinem Bett an, damit ich auch am kleinen Tischchen im Abteil und an der angeregten Diskussion teilhaben kann. Es wird im Abteil Russisch gesprochen. Opa Anatolij kann ein paar Wörter Deutsch, Swetlana und Rulsan sprechen ein paar Wörter Englisch. Ungefähr gleich viele Wörter wie ich Russisch spreche. Wir verständigen uns, ob immer alles richtig verstanden wird, ist eine andere Frage.
Bevor wir noch in Ulan-Ude sind, bin ich bereits “adoptiert”. Anatolij meint, ich müsse unbedingt aussteigen und mir den Bahnhof ansehen. Er war lange Zeit (dort) in der Werkstätte für Diesel-Lokomotiven zuständig. Er bittet mich, von ihm ein Foto vor den Bären zu machen, die vor dem Bahnhofsgebäude stehen.
Wurstkauf in Russland
Anatolij hat mich mit seinen russischen Geschichten fest im Griff. Ich werde schön langsam zappelig, da ich noch gerne eine Jause kaufen möchte, bevor der Zug wieder abfährt. Ich flitze zum Kiosk. Was heißt Wurst auf Russisch? Keine Ahnung. Ich lese der Dame das vor, was ich vom Wurstpellen-Aufdruck in kyrillischer Schrift in der Auslage entziffern kann. “SCH W E I G E R”. Sie erklärt mir, das sei eine “Braunschweiger”. Ob ich die nehmen wolle?
Etwas peinlich berührt wiederhole ich textsicher das Wort “Braunschweiger” und bestätige den Kauf. Kommt davon, wenn man sich nur auf die einzelnen kyrillischen Buchstaben beim Lesen konzentriert und nicht das ganze Wort erfasst.
Der Alltag im Zug
Auch wenn man es nicht glauben will – aber es gibt kaum Zeit, dass ich mich meinen Reiseberichten widme. Eigentlich hatte ich darauf gehofft, in den “unendlichen Weiten” Sibiriens etwas Zeit dafür zu finden.
Stattdessen tut sich ständig etwas. Bei vier Personen im Zugabteil ist immer etwas los. Regelmäßig wird gegessen, diskutiert, Fotos geschaut. Und auch Wodka getrunken. Dann gibt es draußen immer wieder etwas zu sehen und bei Aufenthalten muss man die Lage auf dem Bahnsteig inspizierten. Gibt es etwa leckere, eingelegte Gurken oder Wareniki (gefüllte Teigtaschen) zu kaufen?
Auch der Provodnik (der nette, nicht der betrunkene) kommt regelmäßig auf ein Schwätzchen vorbei. Er ist noch sehr jung, engagiert aber auch übermäßig gestresst und übervorsichtig. Fünf Minuten bevor der Zug abfährt müssen wir schon alle wieder im Zug sein – dass ja kein Fahrgast hinten gelassen wird! Dafür weckt er umgekehrt einen Fahrgast vor seinem Ausstiegsbahnhof nicht auf. Dieser wacht in letzter Sekunde auf und schafft es gerade noch auszusteigen.
Außerdem ist der Schlafwagenschaffner für die Sauberkeit seines Waggons zuständig. Die Toiletten genau so, wie die Abteile. Bei mehrtägigen Fahrten ist schon eine Grundreinigung notwendig. Unser “Alexandrei” ist mit Wischmob und schon etwas schwarzem Wasser unterwegs. In Waggons mit Teppichen surrt mehrmals täglich der Staubsauger.
So viele Aktivitäten machen müde – darum wird auch ausgiebig geschlafen, wenn es die Fahrweise des Lokführers zulässt. An das “frei hängende” Schlafen im oberen Bett muss man sich erst gewöhnen. Einen Sicherungsbügel gibt es nur in den neueren Waggons.
Um 16 Uhr wird Karten gespielt
Karten spielen ist ebenfalls eine beliebte Beschäftigung auf Reisen. Anatolij, Swetlana und Ruslan spielen mit Karten, die unseren sehr ähnlich sehen. Auf dem 16-Uhr-Blick-in-die-Welt-Foto sind sie gerade eifrig am Spielen. Ruslan ist am Gewinnen.
Aktueller Stand um 16 Uhr:
Ort: Transsibirische Eisenbahn, kurz vor Petrowskij Sawod
Land: Russland
Wetter: wechselhaftes, herbstliches Wetter, ca. 15 bis 20 Grad.
Zeitverschiebung:
Beinahe wäre mein 16-Uhr Foto heute ausgefallen, da kurz vor Petrowskij Sawod eine Zeitzonengrenze verläuft und die Uhr daher um eine Stunde vorgestellt wird. Somit ist es eigentlich schon 17 Uhr Ortszeit. Zur Mitteleuropäischen Sommerzeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz beträgt der Zeitunterschied + 8 Stunden. Steht in Petrowskij Sawod die Uhr auf 17 Uhr ist es in Mitteleuropa erst 9 Uhr.
Der Fahrplan bestimmt den Tag
Das Hunger- und Schlafgefühl sowie der Fahrplan bestimmen den Ablauf im Zug. Entspannt gleiten wir in den Abend und in die Nacht.
Die kommende Nacht werde ich hier verbringen:
Im Zug Nr. D 8NJ Nowosibirsk – Wladiwostok am Weg von Irkutsk nach Wladiwostok.
Alex says
Aha, die trinken auf Whiskey?
Ich dachte vor allem Wodka/Vodka!
Na wie auch immer, hauptsache angeheitert! :D
Andersreisender says
@Alex: Ja, ich war auch überrascht! Hatte 2009 auch schon Cognac im Glas ;-)