Bereits mehrmals habe ich mit anderen Menschen hier in Russland gemeinsam gegessen. Jedes Mal war ich davon begeistert, wie das gemeinsame Mahl vor sich geht. Und jedes Mal war ich ebenso verunsichert.
Es ist eine Art gemeinsam zu speisen, die viel intimer ist, als wir sie in Europa kennen und praktizieren. Ist man sich sympathisch, breitet im Zug jeder Fahrgast im Abteil seine mitgebrachten Speisen am gemeinsamen Tischchen aus und und es bedient sich jeder davon. Jeder greift bei den selbst mitgebrachten und den fremden Speise zu. Hier gibt es kein “das ist mein und das ist dein” – nein, das ist unser gemeinsames Essen.
Inhalt:
Aller Anfang ist nicht leicht
So toll ich diese Art zu speisen auch finde, so sehr zurückhaltend und etwas verkrampft war ich bisher. Da war zB. im Zug das Problem: Welche Speisen sollte ich beisteuern? Was mögen auch die anderen Fahrgäste, die ich zum Zeitpunkt des Einkaufs ja oft gar nicht kenne? 2009 bin ich bei meiner ersten Transsib-Reise mit österreichischen Jausenwürsten aus Schweinefleisch und dem gut gemeinten Bier-Angebot bei meinem tschetschenischen Reisegefährten Isa ziemlich eingefahren. Klar, als praktizierender Moslem isst er kein Schweinefleisch. Auch mit Alkohol konnte ich in diesem Fall nicht punkten.
Essen und Trinken gehören zusammen
Wird in Russland Alkohol getrunken, wird dazu auch etwas gegessen. Verschiedene Teller mit kleinen Häppchen – man nennt sie Sakuski – stehen ebenfalls mitten am Tisch. Beliebt sind eingelegte oder eingesalzte Gurken aber auch frische, kleine Fische, Eier oder verschiedenes Gemüse. Dazu gehört auch Brot. Wodka wird niemals allein getrunken, sondern nur in Verbindung mit den pikanten Köstlichkeiten. Bei meiner Einladung im Zug Nr. 16 konnte ich dies zum ersten Mal mit verfolgen.
Bei den Getränken geht es anscheinend weniger darum, aus welchem Gefäß sie getrunken werden. Wichtig ist, dass im Zweifelsfall ein Gefäß bereit steht – egal ob eine Kaffeetasse für den Wodka oder ein Teeglas fürs Bier.
Um mich bei dieser spontanen Einladung auch einbringen zu können, organisierte ich kurzfristig einige Flaschen Bier im Speisewagen. Das kam anscheinend gut an. Im zweiten Anlauf, wenn die Religionszugehörigkeit stimmt, klappt es dann ja doch mit den alkoholischen Getränken.
Perfekte Gastgeber
Wenn man bei Theodor und Feodor in Irkutsk zu Gast ist, hat man wahrscheinlich die besten Gastgeber auf der Welt gefunden. Auch auf unserem Ausflug mit der Cirum-Baikal-Bahn war an alles gedacht. Wie auch die anderen russischen Reisenden, “jausneten” wir den ganzen Tag dahin: Süßigkeiten, Himbeeren, Pistazien, Mohnstudel, Äpfel, Bananen, Studentenfutter, Tee und Mineralwasser gehörten zum Reiseproviant.
Ich hatte nicht einmal Gelegenheit, noch etwas beizusteuern – aber ich hätte auch nicht gewusst was. Geschweige denn: Ich hätte mich – so wie es “bei uns” üblich ist – wahrscheinlich gar nicht so intensiv auf diesen Ausflug vorbereitet. Ein Mineralwasser hätte ich eingepackt, und das war’s dann. In diesem Fall ist für mich ein solch üppig beladener “Reisetisch” ein besonderer, aber auch toller Anblick.
Genaue Einschulung in der Transsib
Heute werde ich von Swetlana, Anatolij und Ruslan noch einmal einer genauen Schulung in Sachen gemeinsames Essen und Trinken unterzogen. Mittlerweile bin ich auch schon etwas sicherer und mein Brot findet genauso wie die russische Braunschweiger den gemeinsamen Tisch. Beim Zugreifen bei den Speisen der anderen bin ich etwas zögerlich, mit den Worten “Gerhard probowat!” werde ich aber mit allem gefüttert, was auf dem Tisch steht.
Swetlana schlägt zweimal mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand auf die Oberseite ihres Halses. Ein untrügliches Zeichen: Nun kommt der Wodka ins Spiel. Sie zaubert eine Flasche Kasachischen Wodka aus ihrer Tasche hervor und stellt ihn auf den Tisch. Anatolij teilt aus, ist beim Einschenken aber fair und macht tatsächlich “Halt” als ich dies wünsche. In meinem Glas befanden sich ungefähr 4cl, also die auch in Österreich übliche Menge, in der man Schnaps trinkt. Anatolijs Trinkglas ist bis zur Hälfte voll, Swetlanas Pegel liegt ungefähr in der Mitte.
Mit einem freundlichen “dawaj” werden die Gläser ex geleert. Swetlana kneift die Augen fest zusammen und riecht am Brot um den scharfen Geschmack zu vertreiben. Sofort bietet sie mir eine eingelegte Gurke “zum Nachessen” an. Anatolij schüttelt sich und greift dann auch sofort zu den pikanten Speisen.
So läuft das also mit dem Wodka und den Sakuski – gut: Dann können wir ja in die zweite Runde gehen.
Der Trinkspruch
Theodor erklärte mir bereits 2009, dass zwar in Hollywood-Filmen mit “sa sdorowje” oder ähnlichen Sprüchen angeprostet wird, dies aber nichts mit der russischen Wodka-Realität zu tun hat. In Russland wird nicht einfach “auf die Gesundheit” angestoßen, sondern der Trinkspruch der jeweiligen Situation angepasst.
Für Menschen, die kein Russisch sprechen, gibt es einen kurzen aber prägnanten Trinkspruch, der immer passt: “Dawaj” (kyrillisch: давай) – einfach übersetzt “lasst uns…” – ist das universell einsetzbare “Zauberwort”.
So schön, so gut. “Dawaj” als universaler Trinkspruch ist bei mir abgespeichert und wird fleißig eingesetzt. Nach mehreren Runden “dawaj” stößt Swetlana heute mit mir plötzlich mit “sa sdorowje” an. Nun überlege ich: Will sie das Klischee dieses Trinkspruchs im Ausland wahren? Oder steckt etwas Anderes dahinter? Ich beschließe, die aufkeimende Unsicherheit im nächsten Wodka schnell zu ertränken. “Dawaj”!
Schnell mal den Laptop aufladen
Leider gibt es im Zug Nr. D 8NJ nur am Gang ein paar Steckdosen. Natürlich sind sie heiß begehrt, gewiefte Mitreisende haben auch ein Verlängerungskabel dabei, das dann ins Abteil führt. Nachdem mir dieses praktische Zubehör fehlt, muss ich zum Aufladen meines Laptop-Akkus etwas kreativer sein. Um ihn ständig aus dem Abteil im Auge behalten zu können, muss ich den Laptop in einem der Notsitze einklemmen. So brauche ich mich vor Dieben nicht zu fürchten.
Gerade als diese etwas “russische” Konstruktion fertig ist läutet mein Handy: Zeit für das heutige “16-Uhr-Blick-in-die-Welt-Foto”.
Aktueller Stand um 16 Uhr:
Ort: Transsibirische Eisenbahn, kurz nach Amasar, Ostsibirien, 7.004 Kilometer von Moskau entfernt
Land: Russland
Wetter: wechselhaftes, herbstliches Wetter, ca. 15 bis 20 Grad.
Zeitverschiebung:
Zur Mitteleuropäischen Sommerzeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz beträgt der Zeitunterschied + 8 Stunden. Steht in Amasar in Sibirien die Uhr auf 16 Uhr ist es in Mitteleuropa erst 8 Uhr.
Die kommende Nacht werde ich hier verbringen:
Im Zug Nr. D 8NJ Nowosibirsk – Wladiwostok am Weg von Irkutsk nach Wladiwostok (Transsibirische Eisenbahn).
Sven says
Dass das “Wässerchen” in Russland und angrenzenden Gebieten zum Grundnahrungsmittel gehört, hielt ich bis dato für ein Gerücht. Aber offensichtlich scheint das Trinken zum Alltag zu gehören. Da kann ich mich echt nur wiederholen: Mann, was beneide ich Dich… ;-)
Greets
Sven
Alex says
Das mit dem Essenstausch klingt interessant, aber ich denke, dass ich da genau so schüchtern wäre! :D
Jedenfalls erlebst du ja genug!
Weiterhin alles Gute und nur gut, dass du nicht mehr in der Moskauer Umgegend bist, wo es brennt, qualmt und raucht.
Gretl says
Lieber Gerhard!
Jetzt muss ich mich auch einmal melden, lese ich doch alle Deine Beiträge und ganz besonders interessiert mich alles über Kultur, Leute, Essen und Trinken. Mir würde noch wahnsinnig gut gefallen, wenn Du bei Deinen Beiträgen immer eine Landkarte mit einer Markierung Deiner Position mitschickst, dann könnte man die Reise noch besser nachvollziehen!
Ich bin auch froh, dass Du weit weg von der Hitze und den verheerenden Bränden bist. Die Katastrophenmeldungen erreichen uns stündlich und man denkt sehr an die armen Menschen dort. Besonders schlimm finde ich, dass ausländische Hilfe bisher weitgehend nicht angenommen wird. Was hörst Du denn über die Brände oder kriegst Du das gar nicht so mit?
Ich bin ja auch schon so urlaubsreif, aber am Mittwoch geht es ab nach Naxos! Freu mich schon riesig. Das Zwergi im Bauch strampelt sich schon mächtig ab. Wir wissen ja immer noch nicht was es wird, weil es so gschamig ist und sich bei der letzten Untersuchung nicht gezeigt hat. So, jetzt hab ich genug erzählt von Dingen, die nicht hierher gehören, aber das liest Du bestimmt. Werde mich erst wieder nach meinem Urlaub am 30.8. bei Dir einklicken. Dann heiße ich übrigens Scheicher!
Weiterhin alles Gute und pass auf Dich auf!
Bussi GRETL
Andersreisender says
@Sven: Interessant ist, dass ich auf meiner ersten Reise durch Russland kaum Wodka getrunken habe – irgendwie waren alle Abstinent. Nun scheint es doch etwas anderes zu sein. Wie hat meine Apothekerin schon gesagt: “Ein Schnapserl nach dem Essen auf Reisen ist gesund”. Darum geht’s mir im Magen scheinbar nach wie vor gut ;-)
@Alex: Dankeschön für die lieben Wünsche! Hat man sich mal auf die herrschenden “Sitten” eingestellt klappt es mit dem Essenstausch in der Transsibirischen Eisenbahn ganz gut ;-)
@Gretl: Hey, freut mich von Dir zu hören bzw. zu lesen und dass Dir meine Reiseberichte gefallen! Das mit der Karte ist so eine Sache: Ursprünglich hätte ich es geplant gehabt, da es einfach praktisch ist. Viele Beiträge schreibe ich aber offline, da oft kein Internet vorhanden ist. In der kurzen Online-Zeit versuche ich so viele Beiträge wie möglich zu veröffentlichen. Für Russland habe ich eine Karte im ersten Beitrag gestaltet, Du findest sie im Beitrag über Russland. Aber jedes Mal eine neue Karte anzufertigen kostet einfach zu viel Online-Zeit.
Aber ich habe mir trotzdem Gedanken darüber gemacht und glaube, nun ein gutes System gefunden zu haben. Ab Japan – um den 14.8. – werde ich die neue Karte einmal testen. Gib mir Bescheid, ob man sich so besser orientieren kann!
Ich wünsche Dir/Euch einen wunderschönen Urlaub in Griechenland und freue mich über Neuigkeiten vom Scheicher-“Bauchi” – gerne auch per E-Mail. Alles Gute und Bussi! Gerhard