Gullydeckel sind robust. Die Kanalabdeckungen aus Metall überdauern Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte. Und sie sind auch dann noch stumme Zeitzeugen, wenn eine Stadt schon längst einen anderen Namen trägt und sich im Land sogar die Schrift verändert hat. In Podgorica erzählen die Kanaldeckel von der wechselhaften Geschichte der Hauptstadt Montenegros.
Beim „herumstirln“ in meinem Bildarchiv bin ich über dieses Gullydeckel-Fundstück aus längst vergangener Zeit gestoßen. Vor etwa drei Jahren war ich mit dem Zug von Belgrad nach Bar unterwegs und habe in der Hauptstadt Montenegros Halt gemacht. Ich hatte den Eindruck, dass in der 185.000 Einwohner zählenden Stadt alles etwas langsamer läuft. Eines der wenigen Highlights sind die Brücken in Podgorica.
Und ich stolperte auch über interessante Gullydeckel. Als sie verlegt wurden trug die Stadt den Namen Titograd. Das war irgendwann zwischen 1946 und 1992. In dieser Zeit trug Podgorica den Stadtnamen zu Ehren des jugoslawischen Ministerpräsidenten Josip Broz Tito. Titograd lag damals in Jugoslawien. 1992 begann das Land zu zerfallen und die Stadt wurde wieder in Podgorica umbenannt.
Während sich Kroatien und Slowenien aus dem Staatenbund lösten verblieb Montenegro vorerst weiterhin in Jugoslawien. Doch die Differenzen zu Serbien wurden immer größer. 2002 bildeten Serbien und Montenegro einen losen Verbund zweier unabhängiger Staaten, 2006 wurde Montenegro endgültig unabhängig. Podgorica ist seitdem die Hauptstadt der Republik Montenegro.
Das Land geht seinen eigenen Weg. Heute würden die Kanaldeckel vermutlich Lateinische Buchstaben tragen, die Kyrillische Schrift verschwindet langsam aus dem Stadtbild. „Fekalna Kanalizacija Podgorica“ würde dann vielleicht auf den Kanaldeckeln stehen, an die Geschichte Titograds würde nichts mehr erinnern.
Den Hersteller der Gullydeckel “Industrija Radoje Dakić” gibt es heute auch nicht mehr. Ende der 1980er Jahre demonstrierten Arbeiter dieser Fabrik unter anderem für die Demokratisierung des Landes und trugen ihren Teil zum Zerfall Jugoslawiens und zur Geschichte bei.
Die Gullydeckel in Podgorica werden vermutlich noch weitere Jahrzehnte überdauern. Sie erzählen ein kleines Stück Stadtgeschichte und mancher Gullydeckel-Sammler freut sich darüber und nimmt ein Bild von ihnen als Souvenir mit nach Hause.
Alex says
Und zack, da ist wieder einer. Ein Gullydeckel! :)
Interessante Geschichte dazu und vor allem, wäre folgender Tippfehler ein Lacher gewesen:
“Zug von Belgrad an die Bar “. In diesem Sinne, alles Gute den Menschen im damaligen Titograd, im jetzigen Podgorica und mal schauen wo die Zukunft hinführt.
tonari says
Schöne Story zur Schachtabdeckung aus Titograd.
(Ich weigere mich weiterhin beharrlich, sie Gullydeckel/Gullideckel zu nennen, weil sie keine sind. *zwinker*)
Was ihre Eigenschaft als Zeitzeuge betrifft, so hege ich diesen Gedanken auch immer, wenn ich hier welche sehe, die TGL oder VEB im Guss tragen. :-)
Andersreisender says
– Alex: “Einer geht immer” …und ich habe noch ein paar mehr auf Lager. ;-) Mit dem Zug kann man übrigens öfters an die Bar fahren und manchmal gibt’s in demselben auch eine. :-)
– Tonari: Jaja… die Schachtabdeckungen. Wobei Kanaldeckel ja eigentlich gilt. Aber ich habe so den Eindruck, dass Gullydeckel bzw. auch als Gullideckel geschrieben in Deutschland ziemlich verbreitet ist, oder?
tonari says
Gully- oder Gullideckel ist Umgangssprache.
Eigentlich (fachlich) sind das die Bezeichnungen für die rechteckigen Abläufe des Regenwassers in die Kanalisation (am Straßenrand nahe der Bordsteinkante).
Andersreisender says
– Tonari: Ja, ich weiß. :-) In dem Fall bediene ich mich eher der Umgangssprache. Schachtabdeckung hört sich sehr krampfig an, oder? ;-)