„The same procedure as last year?“ tönt es aus dem kleinen Laptop-Lautsprecher. “Yes, the same procedure as every year, James” folgt die Antwort von Miss Sophi. Julia (27), Aleks (31) und ich sind uns allerdings noch nicht ganz einig, ob dieses Jahr ein Silvester wie “jedes Jahr” wird. Zwar gehört für die beiden aus Deutschland „Dinner for One“ zum fixen Silvesterprogramm aber was uns hier in Mumbai erwartet ist nicht ganz klar.
„Wie feiern die Inder eigentlich Silvester?“ löchern wir das Internet. Vor allem: Wie feiern die Menschen in Mumbai? Außer Bildern aus Hotels und großen, westlich orientierten Clubs gibt es im Internet nicht viel zu sehen. Und die ernüchternde Antwort: In Indien hat Silvester nicht den Stellenwert wie in Europa. In vielen Regionen wird das neue Jahr im Frühling begrüßt. Oft wird auch Diwali, das Lichterfest, im Oktober bzw. November als Neujahr bezeichnet. Und Moslems feiern Neujahr nach dem islamischen Kalender.
Jahreswechsel unter Indern
Also beschließen wir abseits der hippen Clubs und Hotels im Stadtteil Fort auf den Jahreswechsel zu warten. In der Geschäftszeile gibt es mehrere Restaurants. Diesmal sitzen wir aber nicht in meinem „Stammlokal“, wo ich schon bekannt bin, sondern nebenan. Dort wirbt ein Schild am Eingang dafür, dass hier Bier ausgeschenkt wird. Um Alkohol ausschenken zu dürfen braucht der Wirt eine spezielle Lizenz.
Das Restaurant ist zweckmäßig eingerichtet, nicht zu vergleichen mit einem gemütlichen Wirtshaus in Mitteleuropa. Gekachelter Fußboden, Fliesen an den Wänden, Neonlicht und surrende Deckenventilatoren. Der Chef sitzt am Eingang an der Kasse, einer kümmert sich darum dass die Tische sauber sind, der andere nimmt die Bestellungen auf. Der Wasserträger bringt ständig Metallbecher mit Wasser und in Hockstellung kehrt ein Junge den Schmutz unter den Tischen hervor.
Es ist ein Ort, wo niemand lange bleibt. Es wird schnell gegessen, ein paar Schlucke Wasser getrunken und dann sofort bezahlt. Wir drei sind eine Ausnahme, es ist noch eine Stunde bis Mitternacht. Und auch Ulahs bei uns am Tisch benimmt sich nicht ganz so wie sonst. Entgegen der Gewohnheiten isst er sein Biryani nicht mit der Hand sondern mit Gabel und bietet uns Kostproben an.
Erst etwas scheu taut er schnell auf und erzählt von seiner Familie. Eine seiner beiden Töchter (10) ist erfolgreiche Schwimmerin in Indien, er ist sehr stolz auf sie. Auch wenn er seine Töchter liebt wünscht er sich einen Sohn. Julia stößt das bitter auf. „Zehn Töchter sind so viel wert wie ein Sohn“ sagt Ulahs während er den grün gefärbten Reis in sich hinein schaufelt. Auch wenn er noch offiziell im Dienst ist möchte er nun einen Schluck von unserem Bier probieren, vorher lehnte er kategorisch ab.
Gespanntes warten um Mitternacht
„Noch eine Minute“ ruft Aleks „ich schaue mal auf die Straße hinaus.“ Julia und ich folgen ihm, Ulahs bleibt am Tisch zurück. Punkt Mitternacht. Die Autos hupen, Lärm auf der Straße, Menschen stehen auf dem Gehsteig und unterhalten sich. Aber die Autos hupen sowieso den ganzen Tag ununterbrochen und der Lärm auf der Straße zwingt zum lauten sprechen. Ein Tag wie jeder andere. Kein Feuerwerk, kein Jubel, keine knallenden Sektkorken. Nur wir drei umarmen uns.
Wir sind ins Jahr 2014 gerutscht und niemanden interessiert es. „Saal Mubarak“ beglückwünscht uns Ulahs als wir zurück kommen, dann bringt der Kellner die Rechnung. Auch zu Silvester schließt das Bier-Restaurant um Punkt Mitternacht. Ulahs setzt nach einem weiteren Schluck „Kingfisher Premium“ seinen Dienst fort und wir suchen noch ein Lokal für einen Night Cup.
Bunter start ins neue Jahr
Gottseidank gibt es im gleichen Haus noch eine Bar. Durch die linke Flügeltüre geht’s in ein Restaurant, auf der rechten Seite führt eine Treppe in den ersten Stock. Rotes Licht scheint aus dem Fenster in der Türe, uns versperrt ein schlanker Türsteher mit Schnauzbart den Weg. Er lacht verlegen als Aleks fragt, ob wir in die Bar dürfen. Doch Aleks bleibt nicht locker und fragt nochmals nach, die Antwort des Türstehers ist nicht eindeutig. In dem Moment kommt der Chef meines „Stammlokals“ die Treppe herunter und begrüßt mich freundlich. Dem Türsteher ist nun klar, dass er uns einlassen muss.
Im ersten Stock betreten wir einen bunt dekorierten Raum. Bunte Scheinwerfer leuchten auf sechs bunt gekleidete Mädchen auf der Tanzfläche. Sie bewegen sich nicht, tragen pastellfarbene Kleider, bestickt mit Pailetten und offenes, langes Haar. Der Kellner weist uns an einen Tisch vorbei an einem Mann der gerade die Mädchen mit 20 Rupien Scheinen bewirft. Nicht einen, nicht fünf, nicht zehn. Nein, mit einem ganzen Bündel Geld wird die angebetete bedacht. Mitarbeiter im braunen Hemd sammeln die Scheine sofort wieder vom Boden auf und transportieren sie in einem leeren Sektkarton ab.
Von unserem Tisch haben wir einen guten Blick auf das Geschehen. Der Kellner im schwarzen Anzug verzieht keine Mine während er die Getränke und Knabbereien serviert. Er hat strenge Gesichtszüge, die an Frankenstein erinnern. Außer ihm trägt nur ein untersetzter Herr mit Vokuhila-Frisur einen schwarzen Anzug. Er wirft zur Animation der Gäste wieder ein Bündel Geld in die Luft, die Scheine schneien über die Mädchen herunter. Die Damen stehen gleichgültig da. Schön anzusehen, aber nicht mehr. Die eine wippt kaum merklich zum Gesang des Karaoke-Sängers, die andere tippt gelangweilt auf dem Display ihres weißen Smartphones.
Geld lässt die Puppen nicht tanzen
Der Mann neben mir winkt mit einem Bündel Geld die schwarze Schönheit im langen, rosaroten Kleid herbei. Mit schnellem Schritt kommt sie näher, blickt ihm in die Augen, nimmt wortlos das Geld und schwebt mit wehendem Schal wieder zurück auf ihren Platz auf der Tanzfläche. Dann wird an einem anderen Tisch mit ein paar hundert Rupien gewunken, ein anderer Mann lässt mit einer Hand einzelne Scheine auf das Mädchen mit der Rubensfigur und der entblößten Schulter rieseln. Körperkontakt ist tabu.
Der Frankenstein-Kellner legt Aleks ein Bündel 20er-Scheine hin. „Willst Du die Mädchen mit Geld bewerfen? Da wird sich Deine Freundin Julia freuen.“ sage ich scherzhaft. „Nein, eigentlich wollte ich nur bezahlen, ich glaube, Frankie hat das missverstanden.“
Über 100.000 Rupien, ca. 1.250 Euro, werfen die Besucher in der kurzen Zeit unseres Barbesuchs auf die Damen, sonst passiert nichts weiter Erotisches. Zumindest nicht nach unserer europäischen Anschauung. Inder verzücken scheinbar schon bei einer entblößten Schulter und offenem Haar und können so in Gockel-Manier ihre Begeisterung zeigen.
Ob das ein besonderer, Indischer Neujahrsbrauch ist? Vermutlich nicht. Aber es ist ein interessanter Blick in ein anderes Indien, der Fragen offen lässt. Die Clubs und Bars haben wir nicht vermisst. Es muss ja nicht jedes Jahr die gleiche Prozedur sein. Happy New Year aus Mumbai!
Übrigens: Indien feiert 4,5 Stunden vor Deutschland, Österreich und der Schweiz Silvester. Du möchtest wissen zu welcher Uhrzeit in welchem Land Silvester gefeiert wird? Schau mal in diesen Beitrag rein.
Hier geht’s zur Übersichtsseite Reiseberichte und Reiseinformationen Indien.
Nadine Hudson says
Oh, herrlich, lieber Gerhard. Oh, von diesem Indien könnte ich als Frau ein Lied singen. Nur schnell der Ausländerin über den Arm fahren, schnell an den Po fassen, “willst du tschigitschigi machen?”… Da möchte ich noch einmal das Buch Shantaram empfehlen. Ist zwar von einem Mann geschrieben, aber es beschreibt Indien herrlich.
Geniess eines der verrücktesten und doch anziehendsten Länder der Welt :-). Liebe Grüsse, namaste Nadine
igrigi says
Hallo andersreisender, einfach toll – wie du all diese Möglichkeiten ausnützt!!! Gratulation. Von den ” fans “aus Salzburg
Martina says
Hallo Gerhard!
Sehr interessant. Bin gespannt, was Du noch alles erlebst!
Viele Grüße
Martina
Kathrin says
Wünsche Dir auch ein gutes Neues Jahr!
lg kathrin
Alex says
Da geht man an Silvester um Mitternacht in Mumbai auf die Straße und… nichts! :D
Na das ist doch mal ein Lacher. Aber Hauptsache du bist gut und gesund gestartet und für das Jahr 2014 nur das Beste!
Andersreisender says
– Nadine: Indien und Frauen ist ein “heißes” Thema. Für mich ist es sehr schwierig dieses Verhältnis zu verstehen. Überhaupt an die strikte Rangordnungs-Struktur muss man sich erst einmal gewöhnen.
– Igrigi: Ich freue mich, dass es Euch gefällt! Liebe Grüße nach Salzburg :-)
– Martina: Ich freue mich, dass Du online mit dabei bist. :-)
– Kathrin: Dankeschön! Ebenfalls auch ein “gutes neues Jahr” aus Indien.
– Alex: Tja… an touristischen Hotspots (z.B. in Colaba) hätten wir sicherlich mehr als “nichts” zu Silvester erlebt. Aber ich möchte den Jahreswechsel so nicht missen. War echt klasse!
Tilo says
Oh Indien….
Da habe ich gleich wieder Sehnsucht in meine 2.Heimat!
Silvester habe ich in diesem Jahr dort verpasst, aber die meisten meiner Freunde verbringen Silvester entweder in Goa oder in Thailand.
Naja, aber es scheint ja als hätte ihr ne interessante Nacht gehabt ;)
Andersreisender says
Tilo: Soweit ich gehört bzw. gelesen habe ist in Goa zu Silvester einiges mehr los als in Mumbai.
Verah says
Das klingt ja nett, danke für den Bericht aus Mumbai an Silvester. :-)))
Fahrt Ihr auch nach Pune? Ich bin da demnächst für ein paar Wöchelchen…
(und überlege schon, welche Kleidung als Frau wohl die “geeignetste” ist – zum Abwehren der Männer ;-) )
Andersreisender says
– Verah: Pune steht derzeit nicht auf meiner Reiseliste, bei mir ging es von Mumbai weiter nach Goa. Ich würde Dir als Frau lange Kleidung und bedeckte Schultern empfehlen. Leider erzählen mir immer wieder andere weibliche Reisende, dass Inder gerne mal “tatschen”. Ein resolutes Auftreten ist da sicherlich die richtige Reaktion. Viel Spaß bei Deiner Reiseplanung! :-)
Verah says
Lieber Gerhard,
DANKE für deine Antwort – ich werde es beherzigen.
Gute Zeit weiterhin in Indien!!!!! :-D
Andersreisender says
– Verah: Dankeschön, Dir auch eine gute, sichere Reise!